„Wer ist die Perlmutter?“

„Nein, Schatz, das hat nichts mit ‚Mutter’ zu tun.“ Er nimmt eine der Muschlen, die Lizzie gesammelt hat. „Perlmutt heißt die innere Schicht. Siehst du, wie sie glänzt? Blau, rosa und gelb. Das nennt man irisieren.“

„Frisieren?“, piept Lizzie.

„Mathew! Was soll sie denn mit solchen Wörtern?“, unterbricht Julie. Seine Frau liegt auf dem Hotelteppich und macht ihre Schwangerschaftsgymnastik: hebt ihr Becken und lässt das Baby in ihr zu ihren Brüsten treiben. „Die Perlmutter ist eine große Auster, die ganz tief unten am Meeresgrund wohnt.“

Julie senkt ihren Hintern, stemmt sich in eine Sitzposition und breitet die Arme aus.

„Ganz tief unten am Grund?“ Lizzie wirft sich in Julies Umarmung.

„Ja. Und dort wäscht und poliert sie ihre kleinen Babymuscheln, bis sie glatt sind und glänzen“, erklärt Julie und streichelt Lizzies blonde Locken.

„Können wir die Perlmutter mal besuchen?“

Julia lacht: „Leider nicht. Aber wenn du deine Muscheln im Waschbecken wäscht, glänzen sie auch für dich.“

„Wirklich?“ Lizzies Augen werden groß.

Julie nickt. „Geh und versuch es.“

Sofort hüpft Lizzie zurück zum Tisch, greift zwei Handvoll Muschelschalen und verschwindet im Badezimmer.

„Warum machst du so was?“

„Was?“, fragt Julie und sammelt das restliche Strandgut ein.

Seine Augen bohren sich in ihren Rücken. Zwei salznasse Flecken schwimmen unter ihren Armen und einer da, wo ihre Taille mal war. Perlmutter, eine große Cartoonfigur mit Haube. Großartig!

*

„Halt die Schaufel so: schön hoch und gerade, damit die Qualle nicht runterfällt. Hier, versuch du es mal!“

            Lizzie hat es sich in den Kopf gesetzt, die Quallen zu retten, die die letzte Flut angeschwemmt hat.

            „Arme Fischlein! Ihr vermisst bestimmt eure Mami.“

            Er betrachtet die gewölbten Klumpen im Sand. Hauptsächlich Ohrenquallen. Alle tot, aber das sagt er Lizzie nicht. Diese hier ist ein Männchen, vier lila Ringe unter der milchigen Glocke.

            „Ehrlich, Mathew“, ruft Julie von der Liege herüber, „musst du sie noch ermutigen? Sie wird noch gestochen. Außerdem sollten wir zurückgehen. Wir müssen noch packen. Unser Flug geht um fünf morgen früh.“

            „Ohrenquallen nesseln nicht.“

            Lizzie quietscht. Sie hat es zum Wasser geschafft. Jetzt dreht sie ihre Schaufel um, hockt sich hin und wartet darauf, dass die Qualle wegschwimmt. 

            „Los Qualli, schwimm zu deiner Mami.“

            Er stellt sich neben sie, versucht dem toten Tier einen Schubs zu geben, ohne dass Lizzie es merkt. 

            „Komm, Schatz. Lass uns zum Hotel zurückgehen.“

            Lizzie reagiert nicht.

            „Komm schon, Lizzie.“ Er versucht ihre Hand zu nehmen, aber seine Tochter rollt sich zusammen wie ein Igel.

            Und plötzlich zuckt die Ohrenqualle. Oder war das nur die Brandung? Er kniet sich neben seine Tochter, beobachtet den weißen Ring. Wartet. Noch eine Kontraktion. Diesmal ist er sich sicher! Lizzie kichert.

            Julie faltet die Handtücher auf ihrem Bauch zusammen. „Ich bin müde. Mein Rücken tut weh. Ich brauche ein richtiges Bett.“

            Als er wieder aufs Wasser schaut, ist die Qualle verschwunden.

            „Papi, kann ich Sandkuchen backen?“

            „Nein, Bienchen“, ruft Julie herüber, „Mama muss sich ausruhen. Und du auch.“

            Er steht auf. „Julie. Das ist doch unser letzter Tag.“

            „Ich bin müde, Mathew! Ich bin schwanger bei 38°C. Weißt du, wie das ist?“

            „Warum gehst du nicht schon vor? Dann stören wir dich auch nicht beim Packen.“

            Julie legt das Handtuch auf die Liege und holt tief Luft. 

„Du hast Recht.“ Sie lächelt, küsst ihn und schaut auf Lizzie, die bis zu den Ellbogen im nassen Sand steckt. „Dich küss ich später, Fräulein. Lass sie bitte nicht mehr mit den Quallen spielen, okay?“

„Versprochen. Bis gleich.“

Er beobachtet, wie Julie sich ihren Weg über den glühenden Sand bahnt, zwischen Sonnenschirmen und eingeölten Menschen. Endlich kann er sich mal hinsetzen! Lizzie schaufelt Sand in ein Schildkrötenförmchen.

            „Hühnchen und Nudeln, Erbsen und Möhren, Käse, Apfel, Wasser, Salz und Zucker…“

Er lehnt sich zurück und schließt die Augen. Er liebt Lizzie, aber Ferien sind einfach nicht mehr das Selbe…

*

Ein kalter Windhauch streift seinen Rücken. Er zieht das Handtuch über seine Schultern. Lizzie backt keinen Sandkuchen mehr. Da sind die Förmchen, die Schaufel und wo… Sein Herz überschlägt sich. Ist er eingeschlafen? Er springt auf. 

„Lizzie?“ 

Schaut sich um – den Strand rauf und runter. 

„Lizzie!“

Wo kann sie nur sein? Sie wird doch nicht ins Wasser gegangen sein? Er geht zum Meer – nichts – dreht sich um und eilt zurück. 

„Lizzie! Haben sie meine Tochter gesehen“, fragt er die Frau auf der Nachbarliege.

„Je ne vous comprend pas, monsieur.“

            Feuer pulsiert durch seine Haut und er beginnt zu rennen. Über den Strand, links, dann rechts. Keine Spur von Lizzie. Der Wind schreit in seine Ohren.

            „Papi, Papi!“

„Lizzie?“

Nein… nur eine Möwe – steigt mit einem schrillen Schrei, fliegt landeinwärts. Ein Sturm kommt auf. Der Sand rutscht unter seinen Füßen. Seine Augen sind nass und die Menschen verschwimmen.

„Hat irgendwer meine Tochter gesehen? Ein kleines, blondes Mädchen. Ungefähr so groß?“ 

Vielleicht ist sie zum Eiswagen gegangen? Er schiebt sich durch die Warteschlange. „Sprechen Sie Deutsch?“

Leere Gesichter. Schulterzucken.

Er rennt zurück zu seiner Liege. Schürhacken scheinen sich in seine Rippen zu bohren. Schweiß tropft von seiner Stirn. Er beugt sich vorn über, starrt aufs Meer.

Da ist Lizzies Eimer! Er rennt hin, hebt ihn auf, lässt ihn wieder fallen und watet in die Wellen, stemmt sich gegen das Wasser und wird zurückgeworfen. Eine Dreijährige könnte da nicht reinlaufen. Lizzie würde das niemals tun. Leute hätten sie gesehen! Hätten gefragt: Wo sind deine Eltern? Sie hätte zurückgeblickt und gezeigt. 

Er wippt auf den Wellen, taucht nach Formen, tastet. Große Steine, Seetang und die Beine anderer Schwimmer. Er hasst den Seetang, der sich wie nasses Haar um seine Arme und Knöchel windet. 

Noch eine Welle hebt ihn hoch und trägt ihn landeinwärts. Seine Hüften schürfen über das Vulkangestein und Muschelscherben. Wasser schießt in seinen Mund und seine Nase. Es brennt. Salz und Feuer in seinen Augen.

*

„Wo ist Lizzie?“ Julie sitzt auf dem Hotelbett und trinkt Entkoffeinierten. Ihre pinke Bluse dehnt sich weit über ihren Bauch. Sogar ihr Bauchnabel wölbt sich nach außen um Platz zu machen.

            Mathew glotzt sie an, atemlos. Millionen kleiner Nesseln beißen seine Haut. In seinem Kopf scheint eine Qualle explodiert zu sein. Er versucht die Wörter hinauszudrücken, die in seiner Kehle brennen.

            „Mathew, wo ist Lizzie?“ Panik.

            „Sie ist verschwunden.“

            Julie zuckt zusammen. „Was?“ Kaffee ergießt sich über die Bettdecke, sickert in die Matratze und tropft auf den Velourteppich.

            „Ich. Bin. Eingeschlafen.“

            Julie klammert sich an ihren Bauch. „Nein! Nein… Hast du die Polizei gerufen?“

            „Ich hab den Strand abgesucht.“

            Ein Schrei – Julies. Und mit ihrem Schrei steigt ein Bild auf: Lizzie – Wasser in den Lungen, nasses Haar, treibend, mit offenen Augen, ungesehen…

            Benommen sieht er, wie Julie ihr Handy nimmt. Wie ist die Nummer der Polizei hier?

*

Der Strand ist verlassen, der Sturm ist abgeflaut. Die Wolken sind geblieben. Und der Seetang. Seine Lungen sind klebrig von dem faulen Gestank. Die Flut kommt zurück und wird alles mitnehmen. Morgen wird nichts mehr zu sehen sein. Er wartet. Auf das Wasser, auf die Flut, auf den Flug, den er nicht boarden wird, den Anruf, der noch kommen könnte, und den, der nicht kommen soll. Kleine Farbstücke leuchten schwach zwischen den braunen Strängen. Und irgendwo im Atlantik pulsiert eine Ohrenqualle durch die Dunkelheit.


Eine Meinung zu “Ebbe & Flut

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