In seinem Kopf soll Stille sein. In seinem Kopf soll Stille sein und das gleichmäßige Klackern von Zahlen. Die anderen Kinder sind laut. Sie rufen. Sie rennen. Sie essen Butterbrote und trinken Milch oder Kakao aus Glasflaschen mit Strohhalmen. 

            2, 4, 8, 16, 32, 64, 128, 256, 512, 1024, 2048… 2048 mag er besonders gerne. Aber Pausen mag er nicht. Kinder, die durcheinander rennen, mag er nicht. Den Unterricht mag er lieber, weil dann alle sitzen und etwas zu tun haben und Stille ist. Er öffnet seinen Schulranzen mit Dinosauriern und holt sein Pausenbrot und seine Trinkflasche heraus. Salamibrot und Gurkensandwich. Er mag Salami und er mag englisches Gurkensandwich und seine Mutter weiß das. Seine Mutter weiß, was er mag, und seine Mutter hat ihn lieb. Er stellt sich England wie ein Land vor, in dem alle Taxis von der gleichen Autofirma sind. Er fährt gerne Taxi, aber keinen Renault. In Deutschland haben zwar alle Taxis die gleiche Farbe, Hellelfenbein RAL 1015, aber unterschiedliche Automarken und es kann passieren, dass Mama ein Taxi ruft und ein hellelfenbeinfarbener Renault sie abholt, und dann kann er nicht einsteigen und das weiß seine Mutter auch.

            „He Basti, mach mal Platz da“, schreit Jannik aus der vierten Klasse und tritt gegen Sebastians Ranzen, dass das Sachkundebuch herausrutscht. 

            „Sachkunde haben wir montags in der dritten Stunde und mittwochs in der ersten Stunde.“ 

            „Basti, du Spasti!“, lacht Jannik und geht weiter.

            „Ich heiße Sebastian“, murmelt er. Aber Jannik, Jonas und Franz aus der vierten Klasse nennen ihn Basti. Das mag er nicht. Manchmal nennen ihn auch Felix und Ben aus der dritten Klasse Basti, aber dann sagt Frau Braune, sie sollen das lassen, weil er das nicht mag. Er mag Frau Braune, weil sie den anderen Kindern sagt, was er mag und was er nicht mag, und weil sie ihm manchmal Dinosaurier zum Ausmalen gibt, auch wenn sie gerade ein anderes Thema besprechen. Frau Braune sagt, es sei nicht schlimm, wenn er manchmal was anderes macht als die anderen Kinder. Seine Mutter sagt, jeder ist ein bisschen anders und wenn alle gleich wären, wäre das langweilig. 

            Sebastian findet, dass seine Mutter Recht hat. Philipp und Lukas aus der 2b sind gleich, weil sie eineiige Zwillinge sind. Er mag keine eineiigen Zwillinge. Nur Philipp und Lukas sind okay, weil Philipp eine kleine Narbe am linken Auge hat. Philipp und Lukas sind okay, aber nur solange er links von ihnen stehen oder sitzen kann. Und wenn alle Menschen gleich wären, bis auf eine Narbe links, müsste er immer ganz links stehen, auf der ganzen Erde und das geht nicht, weil die rund ist und irgendwann von vorne anfängt. Frau Braune hat gelacht, als er ihr das einmal erklärt hat und dann hat sie gesagt, seine Mutter hätte wirklich Recht, ohne ihn wäre die Welt auf jeden Fall ein gutes Stück langweiliger.

            Jule kommt über den Schulhof auf ihn zu. Jule ist auch anders. Jule ist anders, weil irgendetwas mit Jules Anziehsachen und Haaren nicht richtig ist.

            „Hallo Sebastian.“

            „Hallo Jule.“

            Jule setzt sich neben ihn, auf den Schulhof, an die Mauer zur Turnhalle, im Schneidersitz und sagt nichts weiter und er sagt auch nichts. Dann sagt er aber doch was, nämlich: „Sag 1.“, und Jule fragt: „1?“

            Und er erklärt: „Du sagst 1 und dann sage ich 2 und du sagst 3 und ich sage 4 und so weiter.“

            Und Jule sagt: „Ach so“, und, „1.“

            „2“

            „3“

            „4“

            „5“

            „6“

            „7“

            „8“

            „9“

            „10“

            Jetzt muss Jule eigentlich 11 sagen, aber Jule sagt nicht 11, sondern: „Meine Mama hat mir heute kein Schulbrot eingepackt.“

            Er denkt sich schnell noch 11, weil 11 ein schönes Ende ist, und dann gibt er Jule die Salamihälfte seines Pausenbrots.

            Jule lächelt. „Danke.“ 

            Wenn Jule lächelt, hat sie zwei Grübchen, auf jeder Wange eins. In die Grübchen könnten seine Zeigefinger genau reinpassen. Aber das ist eine dieser Sachen, die man nicht macht.

            „Mein Papa zieht jetzt in eine eigene Wohnung, nach Köln“, sagt Jule und die Grübchen sind wieder verschwunden. „Und ich soll bei Mama bleiben und an den Wochenenden zu Papa.“

            „Hast du dann zwei Betten?“

            „Was?“, Jule zieht die Nase hoch.

            „Seit mein Vater eine eigene Wohnung hat, kann ich bei meiner Mutter meine Stegosaurus-Bettwäsche haben und bei meinem Vater meine Triceratops-Bettwäsche und muss nicht mehr aussuchen.“

            Jule sagt nichts. Vielleicht mag sie weder den Stegosaurus, noch den Triceratops. Dann sieht er, wie es auf Jules Schuh tropft. Jule weint. Jule weint und er mag keine Tränen, weil bei Tränen die Augen so rot und weich werden wie Erdbeeren und er mag keine Erdbeeren. Auch seine Mutter weint manchmal, aber nur heimlich. Dann sieht er ihre Augen nicht, hört sie nur schluchzen, wenn er abends im Bett liegt, und dann kann er nicht einschlafen. Aber Jule schluchzt gar nicht, weint nur ganz leise und die Tränen rollen ihre Wangen hinunter wie Wasser auf dem Autofenster bei der Fahrt. Sebastian denkt, bei Jule ist weinen irgendwie anders. Bei Jule ist weinen wie Regen am Autofenster.

            „Wenn du magst, kannst du jetzt die geraden Zahlen zählen.“

            Jule sagt nichts und er sagt auch nichts. Und dann regnen Jules Augen nicht mehr und sie sagt: „Sag 1!“

            Und er sagt: „1“

            Und sie sagt: „2“


2 Meinungen zu “Zweierpotenzen

  1. Regina sagt:

    Ich habe gerade keine Worte für diese Geschichte, keine die sie in Seidenpapier einschlagen, keine, die sie in eine stabile Box legen, damit ich sie immer wieder hervorholen und lesend betrachten kann wie einen Edelstein, eine Muschel, ein zartes Aquarell in kräftigen Farben. Ich habe dein Schreiben anders in Erinnerung… und jetzt ist mir warm ums Herz.

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